Das europäische Austauschprogramm ist ein wichtiges Instrument für die Schweizer Bildung. Aber auch der Austausch innerhalb der Schweiz bietet grosse Chancen, die es zu nutzen gilt. Olivier Tschopp, Direktor von Movetia, hat in seinem Blog «Les défis dans l’éducation et la formation » in der «Le Temps» einen Beitrag zum Thema nationaler Austausch und das Vorbild Erasmus geschrieben. 


Quelle: Les défis dans l’éducation et la formation | Le blog de Olivier Tschopp

Einerseits gibt es den grossen europäischen Bruder, an den sich die Schweiz hoffentlich schnellstmöglich wieder assoziieren kann. Andererseits ist da der kleine Schweizer Bruder, der am Entstehen ist. Dabei steht die Frage im Raum, warum er nicht schon läuft. Es handelt sich um ein Austausch- und Mobilitätsprogramm für unsere Schülerinnen und Schüler, Lernenden und Studierenden auf nationaler Ebene. Ein Programm, das sich unsere Mehrsprachigkeit zunutze machen würde und gar ein Referenzprodukt «made in Switzerland» werden könnte.

Stellt das Übereinkommen zwischen Waadt und Zürich einen neuen Ausgangspunkt dar?

Das Übereinkommen zwischen den Kantonen Waadt und Zürich – das wegen der Pandemie und deren Medienecho fast unbemerkt geblieben ist – ist ein Schritt Richtung Austausch zwischen Institutionen und Personen in Ausbildung auf allen Bildungsstufen. Dieses Übereinkommen besteht jedoch zurzeit erst zwischen zwei Kantonen. Es fehlen 24 weitere, die mit ähnlichen Vereinbarungen verbunden werden müssten. Doch wie schaffen wir es von dieser einzelnen Erklärung zu einer breiten Austauschpraxis auf nationaler Ebene? Oder wie lässt sich die Vision der Strategie von Bund und Kantonen, wonach «alle jungen Menschen in der Schweiz während ihrer Ausbildung mindestens einmal an einem Austausch- oder Mobilitätsprojekt teilnehmen sollen», realisieren?

Heute geht es nicht mehr um die Frage, ob ein Austausch im Ausland oder in der Schweiz absolviert wird. Vielmehr steht deren Komplementarität im Vordergrund. Es stimmt: es scheint einfacher, junge Menschen für einen Auslandsaufenthalt zu begeistern, als für einen Aufenthalt in einer anderen Sprachregion der Schweiz, gegen die es eine ganze Reihe Vorurteile und falsche gute Ausreden zu geben scheint, um das Interesse daran zu verlieren. Das wäre ein Fehler. Denn auch über die politischen Klischees bezüglich kultureller und sprachlicher Diversität hinaus würde ein systematischeres Vorgehen auf nationaler Ebene pädagogische, soziale und wirtschaftliche Vorteile bringen. Wie die des grossen Bruders Erasmus.

Ein Schweizer Erasmus

Die Idee, die sprachliche Verständigung im Rahmen eines «Schweizer Erasmus» zu fördern, findet sich bereits in der Publikation des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSGS) aus dem Jahr 2008. Das Ziel war, die Schülerinnen und Schüler mit Fördermassnahmen zu motivieren, ihre Schulzeit teilweise oder ganz in einer anderen Sprachregion zu absolvieren – und diese Art der Mobilität mittelfristig als Standard zu etablieren. Die Analyse basierte auf der Feststellung, dass die damals übliche sprachliche oder bilinguale Früherziehung zwar vielversprechend war, aber daran scheiterte, dass nicht genügend Lehrpersonen die Fremdsprachen fliessend beherrschten. Auch wenn der Kontext über zehn Jahre später ein anderer ist, scheinen die gleichen Schwierigkeiten weiterhin zu bestehen. Die Herausforderung, eine umfassende Anzahl Lehrpersonen auszubilden, ist gross. Es werden schnell Grenzen erreicht, die unüberwindbar scheinen.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich Austausch und die Immersion in eine andere Sprachregion als strategische Ergänzung. Studien und Erfahrungen zeigen, dass mit sprachlichen Grundkenntnissen im neuen linguistischen Kontext sehr rasch Fortschritte erzielt werden, so dass die Schülerinnen und Schüler dem Unterricht folgen können. Die Immersion in ein anderes sprachliches Umfeld –schulisch oder beruflich – scheint heute der effizienteste Weg zur Mehrsprachigkeit zu sein, diese Praxis muss jedoch noch unterstützt, organisiert und vor allem systematisiert werden.

Fokus auf der Sekundarstufe II

Den fruchtbarsten Boden fände ein systematischer Austausch auf der Sekundarstufe II (gymnasiale Maturität, Fachmaturität, Berufsbildung). Diese Stufe wäre ideal für eine solche Erfahrung: Die jungen Menschen sind reif genug, um ausserhalb ihrer Familie selbstständig zurechtzukommen.  Gleichzeitig sind sie noch weitgehend frei von Verpflichtungen. Eine Immersion wäre sehr wirkungsvoll und die sprachlichen Fortschritte für die Teilnahme am Unterricht oder das Absolvieren eines Berufspraktikums in einer anderen Landessprache würden schnell erfolgen. Die Sekundarstufe II wäre also das ideale «Mobilitätsfenster». Auch weil auf dieser Stufe bereits viele Schülerinnen und Schüler bzw. Lernende an Austauschprojekten teilnehmen. Ein obligatorischer Austausch – auch von kurzer Dauer – auf dieser Stufe hätte auch eine positive Auswirkung auf den Bildungsweg und die Mobilität auf der Tertiärstufe. In weniger als einer Generation könnten wir einen «Qualitätsstandard» schaffen, der einen Teil der Ausbildung in einer zweiten Landessprache selbstverständlich machen würde.

Und die Konkurrenz durch das Englische?

Die Landessprachen dem Englischen gegenüberzustellen, würde von den jeweiligen Zielen ablenken. Heute werden alle jungen Menschen während ihrer Ausbildung in irgendeiner Weise mit Englisch konfrontiert. Bisher arrangieren sie sich gut damit, denn es ist eine Notwendigkeit. Aber trotz seiner Relevanz darf Englisch als unverzichtbares Arbeitsinstrument nicht mit einer innergemeinschaftlichen Kommunikationssprache verwechselt werden, die die Schweizer Mehrsprachigkeit verdrängen würde. Diese muss ein Fundament unseres Landes, unserer kulturellen Diversität und unseres Zusammenhalts bleiben.

Ausserdem umfasst ein Austausch natürlich viel mehr als nur die linguistische Dimension – die Erfahrungen und die dabei erworbenen Kompetenzen sind vielfältig. Einen Austausch zu machen oder in einen anderen kulturellen Kontext einzutauchen, bringt enorme Vorteile für die Teilnehmenden und ihre berufliche Karriere. Aber auch für die Schulen, das Bildungssystem als Ganzes und natürlich für den Arbeitsmarkt stellt die Mobilität einen erheblichen Gewinn dar.

«Swissness» schaffen

Austausch ist auch aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht ein Trumpf. Erasmus verfolgt sicherlich ein ideologisches Ziel. Es wurde mit der Zeit aber zu einem sehr erfolgreichen Austauschprogramm auf europäischer und globaler Ebene für alle Altersgruppen. Die Zeiten, in denen sich das Programm nur an Studierende richtete, sind vorbei. Heute ist es ein «Programm für lebenslanges Lernen», spricht alle Bildungsstufen an und profiliert sich in Europa als unumgänglicher Teil fast jeden Bildungswegs. Stellen Sie sich vor, die Schweiz würde genau das im Inland tun: über ein systematisches Austausch- oder Mobilitätsprogramm aus der Mehrsprachigkeit einen Qualitätsstandard machen, eine Marke, einen echten wirtschaftlichen Wert, nicht nur einen kulturellen. Ein echtes Produkt «made in Switzerland».

Der Schweiz muss ihr eigenes Erasmus gelingen. Der Kohärenz und Komplementarität des Sprachgebrauchs wegen, aber auch wegen des grossen pädagogischen, sozialen und wirtschaftlichen Werts, den Austausch hat. Ein solches Programm wäre ein Treiber für den Zusammenhalt und ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu einem Land beziehungsweise sogar zu einem Kontinent.