Laure-Elie Hoegen Beringer unterrichtet Deutsch und Französisch an der Sekundarschule in Genf. Sie befindet sich derzeit in einem Immersionsaufenthalt an zwei Schulen in Mittelfinnland. Die Genfer Lehrerin befasst sich mit Methoden, die sie in ihren Unterricht zu Hause einführen will. Ihre Überlegungen sind vielfältig, verfolgen aber ein gemeinsames Ziel: ihre Schülerinnen und Schüler sollen sich entfalten.


Quelle: Heidi.news, «Réinventer l’école» (dt.: Schule neu erfinden) von Sarah Zeines

Warum es von Interesse ist. Seit dem Start des Programms zur internationalen Schulleistungsuntersuchung PISA (Programme for International Student Assessment) im Jahr 2000 führen finnische Jugendliche regelmässig die Rangliste an. Das, obwohl die Schülerinnen und Schüler in Finnland weniger Unterrichtsstunden, weniger Hausaufgaben und weniger Prüfungen haben als in anderen europäischen Ländern. Das Schulsystem ist eher auf Dialog und Wohlbefinden statt auf Leistung ausgelegt. Dieses Bildungsmodell hat Heidi.news bereits in mehreren Artikeln in der Rubrik «Réinventer l’école» behandelt.

Nachforschen in Sachen Pädagogik. Für dieses Interview muss Laure-Elie Hoegen Beringer einen See überqueren. «Ich mache zurzeit Ferien in einer kleinen Hütte in Lappland, wo es keine durchgehende Internetverbindung gibt. Meine momentanen Mitbewohner und ich suchen gleichermassen nach WLAN wie nach Nordlichtern», amüsiert sie sich.

Ihren Aufenthalt in Skandinavien verbringt die 31-jährige Lehrerin jedoch mehrheitlich in zwei Schulen in Jyväskylä in Mittelfinnland. Seit zwei Monaten und noch bis im Mai beobachtet und begleitet sie ihre Berufskolleginnen und -kollegen aus dem Norden im Rahmen eines Programms von Movetia.

Ihr Immersionsaufenthalt beinhaltet klare Ziele. Zunächst geht es darum, zu erkennen, was in diesem Lernumfeld zum Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler und zu ihrer aktiven Teilnahme im Unterricht beiträgt. Anschliessend versucht sie herauszufinden, wie sie diese Erfahrung auf die Klassen in Genf übertragen kann. «Gewisse Ansätze aus Finnland werden in unserem Schulsystem schwer umsetzbar sein», schätzt sie. «Andere Techniken hingegen, unter anderem solche des materiellen Komforts, des Dialogs oder des Spielens können ganz klar Denkanstösse sein, um den Unterricht in der Schweiz zu optimieren.»

Unaufmerksamkeit entdramatisieren. Für die Lehrerin liegt der Kulturschock in Finnland vor allem in der pädagogischen Philosophie.  Es ist eine Philosophie der «heiteren Gleichgültigkeit», mit den Lehrpersonen auf Schülerinnen und Schüler zu gehen. Die Schülerinnen und Schüler haben so die Freiheit selber zu entscheiden, ob und wie sie sich im Unterricht einbringen.

«Die Jugendlichen erhalten Computer, die meist der Staat finanziert. Im Unterricht, in dem praktisch alle Inhalte digitalisiert sind, steht es ihnen frei, Videos zu schauen oder Spiele zu spielen. In der Schweiz würden sich Lehrpersonen gegenüber diesem Verhalten machtlos fühlen. Sie würden die Ablenkung als mangelnde Aufmerksamkeit und als eine Art Versagen wahrnehmen. In Finnland hingegen müssen Schülerinnen und Schüler, die die Prüfungen nicht bestehen, einfach einen anderen Bildungsgang wählen oder das Jahr wiederholen, ganz ohne Drama. Es ist somit ein sanfter Ansatz, der bei uns jedoch als Nachlässigkeit erachtet werden könnte.»

Einladendes Mobiliar. Neben der Freiheit der finnischen Schülerinnen und Schüler, sich im Unterricht einzubringen oder nicht, spielt das Mobiliar eine wichtige Rolle. «Hier sind fast alle Klassenzimmer mit drehbaren Hockern ausgestattet. Die Schülerinnen und Schüler können sich nach vorne oder nach hinten kippen und sich drehen. Es ist ganz simpel, aber genial. Das Mobiliar fördert den Dialog. Ausserdem hat es überall Sofas und Teppichboden. Wir laufen den ganzen Tag in Socken herum. Das sind ganz grundlegende Aspekte, die aber wirklich toll sind. In einem Land wie Finnland, wo es im Winter sehr dunkel ist, verbringen die Jugendlichen die hellsten Stunden des Tages in der Schule. Umso wichtiger ist es, die Schule so angenehm wie möglich zu gestalten.»

Wie sieht es bei den Lehrpersonen aus? Die Lehrpersonen in Finnland gehören zu den bestausgebildeten der Welt. Sie besuchen noch während ihrer ersten Praxisjahre Kurse, die viel Raum für Forschung lassen. Was können die Pädagoginnen und Pädagogen in der Schweiz von diesem Ausbildungsmodell lernen? Wie können unsere Lehrpersonen noch besser werden? «Ich denke, man sollte das Problem mit dem Dialog mit den Schülerinnen und Schülern vermehrt aufgreifen, so wie man das hier macht», hebt Laure-Elie hervor. «Die Art und Weise, wie wir mit den Jugendlichen sprechen, wenn sie zerstreut oder besorgt sind, ist entscheidend. Das bedingt psychologische Kompetenzen, die nicht erst spät erworben werden sollten.»

Ferner stellt sich die Frage nach der Wichtigkeit von Benotungen: «In der Schweiz ist eine gute Schülerin bzw. ein guter Schüler gleichbedeutend mit guten Noten. Unter anderem ist zudem die Teilnahme am Unterricht ein Erfolgsindikator. Warum legen wir also bei der Ausbildung von Lehrpersonen nicht auch darauf Wert?»

Geringer gewichtige Prüfungen und ein spielerischer Unterricht. Inwiefern möchte Laure-Elie Hoegen Beringer ihre Methoden anpassen, sobald sie zurück ist? «In der Schweiz verfügen wir über viel Freiheit bei der Vorbereitung unseres Unterrichts. Ich werde versuchen, den Noten weniger Gewicht zu geben, indem ich öfter kleine Kontrollen mache und das Üben in den Vordergrund rücke, so lässt sich die Angst vor Prüfungen verringern. Ich denke auch, dass das Spielen ein guter Ansatz ist. In Finnland wird oft auf spielerische Weise unterrichtet, indem zum Beispiel in Fremdsprachen gesungen wird oder interaktive Aufgabengelöst werden.. Ich arbeite mit einer Kollegin daran, eine Theatergruppe aufzuziehen, die Stücke auf Deutsch in den Klassen aufführen wird. Die Schulleitungen der Genfer Schulen haben bereits Interesse an dieser Initiative bekundet. Das ehrt mich.»

Während sie sich auf die künftig in den Genfer Schulzimmern vorgeführten Stücke von Max Frisch oder Bertolt Brecht freut, führt Laure-Elie ihre Suche nach einer besseren Bildung fort und lässt sich von den Methoden jenes Landes inspirieren, in dem die Schule Trumpf ist.