Oder etwas entschärft und politisch korrekter ausgedrückt: «Möchte das Schweizer Schulsystem eine Inspirationsquelle für andere Länder werden?»

Wenn unser Land zahlreiche internationale Schulen anzieht und sein Know-how in den Bereichen der Hochschul- und der Berufsbildung exportiert – wie steht es dann um sein Schulsystem, einen weiteren unserer starken Werte und Symbol unseres Föderalismus? Lädt die Schule unserer Sprösslinge anderswo zum Träumen ein?


Quelle: Les défis dans l'éducation et la formation | Le blog de Olivier Tschopp

Oder etwas entschärft und politisch korrekter ausgedrückt: «Möchte das Schweizer Schulsystem eine Inspirationsquelle für andere Länder werden?»

Wenn unser Land zahlreiche internationale Schulen anzieht und sein Know-how in den Bereichen der Hochschul- und der Berufsbildung exportiert – wie steht es dann um sein Schulsystem, einen weiteren unserer starken Werte und Symbol unseres Föderalismus? Lädt die Schule unserer Sprösslinge anderswo zum Träumen ein?

Im Kontext von Freihandel und von Wettbewerb um Wissen auf globaler Ebene, der aus der Bildung ein strategisches Thema, aber auch einen Markt macht, ist die Frage durchaus berechtigt. Es wäre ein Fehler der Schweiz, sich nicht dafür zu interessieren. Besonders, da unser Bildungssystem einige Schwerpunkte bietet, die andere Länder interessieren dürften. Aber sollte man, um sie zu honorieren, die heimischen Kräfte ungeordnet selbständig agieren lassen, ganz nach schweizerischer Art? Oder sollte man sich vielmehr proaktiv zeigen und auf Ebene des Bundes und der Kantone eine koordinierte Strategie fahren?

Die wissensbasierte Wirtschaft: ein globaler Wettbewerb

Die wissensbasierte Wirtschaft hat sich in unserer Gesellschaft immer mehr durchgesetzt. Sie verkörpert laut einigen Fachleuten sogar eine neue Phase der Wirtschaftsgeschichte. Die Bewegung entstand in den 1990er-Jahren mit der Kommerzialisierung des Wissens, das bislang als «Gemeingut» gegolten hatte, da damals Eigentumsrechte auf Wissen und Information eingeräumt wurden. In der Gegenwart hat dieser Prozess politische und wirtschaftliche Chancen eröffnet, wobei sich Länder und Unternehmen auf globaler Ebene um die Führung streiten.

Eine Serie von Artikeln, veröffentlicht in den Heidi-News, thematisiert den weltweiten Wettbewerb, den sich diese Länder liefern. Während Finnland sich die Qualität seines Bildungswesens und der Ausbildung seiner Lehrpersonen zunutze zu machen weiss und damit niemanden überrascht, stimmen andere Länder, darunter Katar, mit ihrem Beispiel umso nachdenklicher. Auf der anderen Seite gibt es bei Vorhandensein eines solch grossen finanziellen Spielraums durchaus dümmere Arten, sein Geld zu investieren.

Im Umfeld der Universitäten, die sich auf globalem Niveau bewegen, ist diese wissensbasierte Wirtschaft bereits in vollem Gang, da streiten sich die besten Professorinnen und Professoren sowie die besten Studierenden unter der kritischen Beurteilung internationaler Rankings. In der Schweiz wird das Phänomen (noch) mit einer gewissen Herablassung betrachtet. Obschon der Bund darauf bedacht ist, die Rahmenbedingungen bereitzustellen, die es unseren Hochschulen ermöglichen sollen, an diesem weltweiten Wettbewerb teilzunehmen. Mit einigem Erfolg. Auch im Bereich der Berufsbildung – Vocational Education and Training (VET) – wird das Know-how der Länder, die sie beherrschen, exportiert. Auf der ganzen Welt realisiert man, dass die Berufsbildung eine entscheidende Rolle spielt bei der Ablösung der Vermögenswerte in Unternehmen und beim Ausbremsen der Jugendarbeitslosigkeit. Die Schweiz, die in diesem Bereich gut dasteht, spielt auch da ihre Karten geschickt aus. Dies zeigt sich daran, dass das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation internationale MoU (Memorandums of Understanding) mit den Zielländern unterschreibt. Oder es zeigt sich auch daran, dass die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) diese in ihren Einsatzländern anwendet.

Im Bereich der Schulbildung ist der globale Wettbewerb zurückhaltender. Lange in ihren lokalen Kontext zurückgezogen und vor jeglicher konsumorientierten Regung geschützt, weckt jedoch auch die sogenannte «obligatorische» Schulbildung (Compulsory Education) allmählich das Interesse mehrerer Länder, grosser internationaler Gruppierungen und sogar von Start-ups, die ein Marktpotenzial wittern. Man kann davon ausgehen, dass sich das Phänomen noch verstärken wird, bedenkt man nur die Wichtigkeit, die die Grundbildung in der nationalen Politik erlangt hat. Es sind die ersten Jahre in der Entwicklung Einzelner und von Gruppen, die eine entscheidende Rolle spielen.  Auch den konstanten Druck vonseiten der Gesellschaft und der Eltern auf die schulischen Leistungen sind Gründe für eine zunehmende Relevanz . Das Beispiel der Positionierung von Finnland und dessen «Export-Bildung» ist sicherlich das eindrücklichste, doch andere Länder werden folgen.

Und welche Position nimmt die Schweiz in all dem ein? Heidiland, das sein Bildungssystem wie ein Geheimnis hütet? Oder weltoffene Nation, die bereit ist, ihr Know-how zu teilen?

Geht es darum, Studierende oder Bildungsinstitutionen anzuziehen, macht die Schweiz ihre Argumente nutzbar. Zumindest lässt sie bestimmte ausländische Gruppen diese ausschöpfen. Das Klischee und die «Tugenden» unseres Landes werden allerdings von ebendiesen Gruppen genutzt, um hier ihre internationalen Schulen zu errichten und kreuz und quer Kandidatinnen und Kandidaten zu rekrutieren. Diese Wirtschaft scheint zu florieren. Auch wenn daraus ein ziemlich abgehobenes System entsteht, da öffentliche und private Schulen in der Schweiz zwei einigermassen parallele Universen bilden.

Die Idee, Know-how zu «exportieren» oder bewährte Kompetenzen hervorzuheben, abgesehen vom Bereich der Hochschulen und der Berufsbildung, scheint in der politischen Szene kaum Begeisterung zu finden. Warum? Dazu gibt es verschiedene Hypothesen. Darunter moralische Werte, zum Beispiel, dass man nicht zu einer «McDonaldisierung» der Schule beitragen möchte. Andere sind umstrittener, darunter das Heidiland-Syndrom (wir funktionieren gut so und bleiben unter uns), die Tatsache, dass wir unser Bildungssystem wie einen Schatz hüten. Oder auch die Vorstellung, so weit über den anderen zu stehen, dass man es für unnötig hält, seine Zeit mit sinnlosen internationalen Kooperationen zu verschwenden.

Ungeachtet solcher Gründe kann man diese Zurückhaltung und das geringe Interesse bzw. die fehlende politische Unterstützung nur bedauern. Zumal die Schweiz aufgrund ihres Föderalismus, der Dezentralisierung ihrer Institutionen, ihres Milizsystems, der relativen Autonomie ihrer Schulen und ihrer Mehrsprachigkeit  massgeblich dazu beitragen könnte, dieses Phänomen der Internationalisierung oder der Globalisierung der Bildung zu beeinflussen. Besonders in den sogenannten Ländern des Globalen Südens, in denen die Stabilität und die Qualität eines guten Grundschulsystems eine grosse Herausforderung für die Entwicklung darstellen. Für diese Länder wären die Schwerpunkte des Schweizer Bildungssystems eine schöne und sinnvolle Inspirationsquelle.

Aber möchte das die Schweiz? Kann sie es, angesichts ihres föderalistischen Systems, in dem die Verantwortlichkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund aufgeteilt und verwässert werden?

Fünf «exportfähige» Schwerpunkte des Schweizer Bildungssystems

Die DEZA veröffentlichte 2018 eine Broschüre mit fünf zentralen Schwerpunkten des Schweizer Bildungssystems, die im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit im Bildungssektor von der DEZA umgesetzt werden können. Diese Schwerpunkte stützen sich auf eine vom Institut für internationale Zusammenarbeit in Bildungsfragen (IZB) der Pädagogischen Hochschule Zug durchgeführte Studie mit dem Titel «Bewährte Praktiken in der Schweizer Schulbildung und potenzieller Mehrwert für die DEZA». 

Ich fasse sie im Folgenden kurz zusammen:

  • Die zentrale Bedeutung der öffentlichen Schule, ihre Qualität und ihre integrative Rolle: Die öffentliche Schule geniesst in der Schweiz eine lange Tradition. Die Gesellschaft misst ihr eine grosse Bedeutung bei. Sie ist Teil eines stabilen politischen Systems und sieht sich integrativ. Ihre hohe Qualität zeigt sich insbesondere darin, dass 95 % der Kinder im Schulalter die öffentliche Schule besuchen. Im internationalen Vergleich ist der Anteil an Privatschulen in der Schweiz sehr gering.
  • Die dezentrale Organisation der Bildung, die die Verantwortung der Gemeinden und an die lokalen Gegebenheiten angepasste Lösungen fördern: Das Schweizer Bildungssystem ist weltweit eines der dezentralsten. Diese lokale Verankerung ermöglicht es, massgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, die an die lokalen Gegebenheiten angepasst sind. Das Schulsystem ist charakterisiert durch die aktive Beteiligung der Lehrkräfte, der Schulleitung und der Gesellschaft. Kein anderes Land kennt ein ähnliches System.
  • Mehrsprachigkeit, ein entscheidender Faktor für den Lernerfolg, die Identität und die Wirtschaft: Die Mehrsprachigkeit ist ein Merkmal der Schweiz, das man auch in der Schuldbildung wiederfindet. Die Unterrichtssprache ist diejenige der jeweiligen Sprachregion, schrittweise wird eine zweite Landessprache eingeführt, manchmal auch eine dritte, dazu Englisch. Über sprachliche Unterstützungsmassnahmen hilft die öffentliche Schule Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die die Landessprache der jeweiligen Region nicht beherrschen. Dies ist weltweit praktisch einzigartig.
  • Der Erwerb von Kernkompetenzen in der Schule, eine Vorbereitung fürs Leben: Die auf den Erwerb von transversalen Kompetenzen ausgerichteten Lehrpläne, die derzeit in den Schweizer Schulen gelten, ermöglichen es, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Die Schule muss auch lehren, auf wirtschaftliche, ökologische und soziale Veränderungen zu reagieren, damit künftige Generationen für den Arbeitsmarkt, das politische Leben und die Gesellschaft gerüstet sind. Diesen Weg nehmen zahlreiche Länder.
  • Eine gute Schulbildung und eine hohe Durchlässigkeit: ausschlaggebende Faktoren für den Erfolg der (beruflichen) Bildung und der Berufstätigkeit: Die obligatorische Schule in der Schweiz vermittelt die nötigen Kenntnisse für die persönliche wie auch die berufliche Entwicklung. Der Erwerb einer soliden Allgemeinbildung in der obligatorischen Schule erleichtert anschliessend die Spezialisierung im Rahmen der beruflichen oder der akademischen Ausbildung, die in der Folge auf die spezifischen Kompetenzen des Berufs oder des Studiengangs fokussieren können.

Annehmen und Entwickeln von Swissness in Bezug auf die Grundbildung in der internationalen Zusammenarbeit

Die erwähnten fünf Schwerpunkte des Schweizer Schulsystems sind mögliche Inspirationsquellen für andere Länder. Die Schweiz könnte in diesen Bereichen eine ausschlaggebende Rolle in Bezug auf die internationale Zusammenarbeit spielen. Allein schon, indem man sie anerkennt, sichtbar macht und auf ihrer Basis eine Schnittstelle schafft, die die Verbindung herstellt zwischen den Bedürfnissen der betroffenen Länder und dem Know-how der entsprechenden Stellen in der Schweiz (Pädagogische Hochschulen, Forschungsinstitutionen, Expertenkommissionen etc.). Die Art und Weise, wie das Potenzial dieser starken Werte des Schweizer Schulsystems in den Partnerländern umgesetzt würde, hinge dann natürlich von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten ab.

Und auch ohne so weit zu gehen, aus unserem Bildungssystem ein Exportprodukt zu machen, wäre es wünschenswert, dass sich unser Land weniger reserviert und abwartend zeigt. Aber dafür braucht es zuerst einen politischen Willen, den Bund und Kantone teilen sowie den Wunsch, gemeinsam die ersten Leitlinien einer ausgereifteren Strategie zu skizzieren.

PS: Derzeit wird eine Machbarkeitsstudie von der DEZA durchgeführt, um eine einfache und wirkungsvolle «Schnittstelle» zu testen, die die Anforderungen der Einsatzländer der DEZA mit dem Know-how des schweizerischen Schulsystems verbinden soll. Die Agentur Movetia wurde von der DEZA beauftragt, Lösungen zu untersuchen und vorzuschlagen.