Migrationserfahrungen auf der Spur

Anfang Juli besuchten zehn Schüler:innen aus dem süditalienischen Cisternino im Rahmen eines von Movetia geförderten internationalen Klassenaustauschs die Kantonsschule sowie die Pädagogische Maturitätsschule in Kreuzlingen. Im Austauschprojekt setzen sich die Schülergruppen mit der Geschichte der Immigration und Emigration in den beiden Ländern anhand von literarischen Werken sowie biografischen Interviews auseinander. Im Oktober steht der Gegenbesuch in Italien an. Lesen Sie den Bericht über die Besuchswoche der Schüler:innen in der Schweiz und tauchen Sie ein in die Migrationsgeschichten der Personen, die den Schüler:innen bereitwillig Auskunft gaben.

Dieser Artikel wird von der Kantonsschule Kreuzlingen zur Verfügung gestellt. Text und Bild: Julia Heier

In der letzten Schulwoche 2022/23 bekam das Schwerpunktfach Italienisch der 3. Klassen Besuch aus dem italienischen Cisternino. Es waren wertvolle Tage des kulturellen Austauschs, der im Oktober in Italien seine Fortsetzung finden wird.

Städtepartnerschaft seit 23 Jahren
Kreuzlingen zog im vergangenen Jahrhundert mehrere Tausende «Gastarbeitende» an. Viele von ihnen kamen als Saisonniers aus Apulien in Süditalien. Und obwohl einige von ihnen nach der Pensionierung wieder zurück in ihre Heimat gekehrt sind, verbindet sie noch immer vieles mit dem Thurgau und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur eine langjährige Freundschaft, sondern auch im Jahr 2000 eine Städtepartnerschaft mit Cisternino und daran anschliessend ein fruchtbarer Austausch zwischen den Kreuzlinger Gymnasien und dem Liceo polivalente «Don Quirico Punzi» entstanden.

Schüleraustausch mit Apulien
In der ersten Juli-Woche besuchten zehn italienische Schülerinnen und Schüler die Kanti Kreuzlingen (KSK) sowie die Pädagogische Maturitätsschule (PMS). «Ziel ist nicht nur, ein fremdes Land und seine Kulturen kennenzulernen, sondern einen Einblick in den Alltag gleichaltriger Jugendlicher zu bekommen und diesen hautnah für sieben Tage mitzuerleben», erklärt Monica Marotta, Italienisch- und Französischlehrerin an der KSK und zusammen mit Xenia Hönig (Italienisch- und Französischlehrerin an der PMS) Co-Organisatorin des Austauschs. Dabei leben die Gastschülerinnen und Gastschüler eine Woche lang in Familien oder, wie in Maria Semeraros Fall, unter der Woche im Konvikt der PMS – im gleichen Zimmer wie ihre «gemella», ihre Austauschpartnerin.
 

Wir wurden alle wahnsinnig herzlich empfangen, von unseren Gastfamilien, aber auch den Lehrpersonen. Alle waren sehr hilfsbereit.

Das erzählt die 15-Jährige, die vor der Reise Sorge hatte, im Ausland Heimweh zu verspüren. Gleich nach ihrer Ankunft ging es an den Rheinfall, ein Ausflug mit ihrer Gastfamilie, der ihr «noch lange in Erinnerung bleiben wird». «Es ist so schön grün hier, mir gefallen die Häuser am Bodensee, der Lebensstil, das Grenzenlose», schwärmt sie weiter.

Emigrazione e immigrazione
Zusammen mit ihrer Austauschpartnerin hat sie auch eine in die Schweiz immigrierte Person interviewt. Denn neben dem bunten Programm an kulturellen und gesellschaftlichen Aktivitäten, wie etwa einem Besuch in der St. Galler Stiftsbibliothek, einer Schnitzeljagd in Konstanz oder einem Ausflug auf die Insel Reichenau, war das Thema der Woche die «emigrazione e immigrazione».
«Wir haben uns im Vorfeld mit der Lektüre Das Eidechsenkind / Il bambino lucertola von Vincenzo Todisco auseinandergesetzt, die vom Schicksal eines versteckten Kindes von Saisonniers handelt», berichtet Monica Marotta. «Und am vergangenen Dienstag hat uns Egidio Stigliano besucht, Vizepräsident des Vereins «Tesoro», der sich mit der Aufarbeitung des Schicksals illegalisierter migrantischer Familien mit Saisonnier- und Jahresaufenthalterstatut befasst. Stigliano hat die Realität eines versteckten Kindes am eigenen Leib erlebt. Ein ergreifender und wertvoller Moment für uns alle.» 

Am Ende des Tages sind wir alle gleich, wir sind alle Menschen.

Anschliessend hatten die Jugendlichen die Aufgabe, mit Personen ins Gespräch zu kommen, die aus der ganzen Welt in den Thurgau gekommen sind, um sich und ihren Familien eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Zino Schwarz, der die dritte Klasse der KSK besucht, und Giuseppe Santoro aus Cisternino haben hierfür beispielsweise das Gespräch mit Ilya K. gesucht, der als kleines Kind mit seiner Familie aus dem Iran flüchten musste. Er fühlt sich hier in der Schweiz «daheim», aber im Herzen ist er im Iran zuhause, in den er bislang aufgrund der anhaltenden politischen Spannungen nicht zurückkehren konnte. «Am Ende des Tages sind wir alle gleich, wir sind alle Menschen», gab ihnen der 18-Jährige mit auf den Weg, der später in der Schweiz Medizin studieren möchte, um seine Eltern stolz zu machen.

Schöne Landschaft, hervorragende Infrastruktur
Giuseppe Santoro, der das erste Mal für den Austausch in die Schweiz gereist ist, weiss, wie es sich anfühlt, «zwischen zwei Stühlen» zu sitzen: «Mir hat die Woche hier so gut gefallen. Ich habe grosse Schwierigkeiten damit, nun abzureisen.» Auch ihn haben die schöne Landschaft, die Herzlichkeit der Gastgebenden, aber auch die Ausstattung der Schulen beeindruckt: «Ein Platz wie die Oase in der Kantonsschule Kreuzlingen, die vielen Orte, an denen man sich tagsüber an der Schule aufhalten kann, die Infrastruktur in den Klassenzimmern – all das hätten wir auch gerne in Cisternino. Aber wer weiss, vielleicht komme ich nach der Matura zurück, um an der Universität Konstanz zu studieren», sagt der 17-Jährige und lächelt.

Im Oktober 2023 reisen nun die zehn Schülerinnen und Schüler der KSK und PMS für eine Woche nach Cisternino und freuen sich nicht nur darauf, die Schule und ihre Lehrpersonen dort vor Ort kennenzulernen, sondern vor allem ihre «gemelli», ihre Austauschpartner, wiederzusehen. Nach einer Woche intensiven Zusammenseins fällt der Abschied allen schwer. «Ein grosses Dankeschön gilt auch vor allem den Familien, die bereit waren, die Gäste aus Cisternino so herzlich zu empfangen», sagt Lehrerin Lilia Soloperto, die die Klasse den langen Weg mit dem Zug von Cisternino bis nach Kreuzlingen begleitet hat. 

Wir hätten niemals gedacht, dass wir uns hier in einer Woche so wohl fühlen würden.