In den letzten 70 Jahren hat das finnische Bildungssystem im internationalen Vergleich deutlich an Fahrt gewonnen. Dafür gibt es viele Gründe, aber ein Faktor wird von Fachleuten immer wieder genannt: die Rolle und die Kompetenz der Lehrpersonen.


Quelle: Heidi.newsRéinventer l’école von Lorène Mesot
Bild: Antti Yrjönen von Heidi.news

Was haben die Siegervelos der Tour de France und das finnische Bildungssystem gemeinsam? Diese Gegenfrage stellt uns der Superstar des finnischen Bildungssystems Pasi Sahlberg, als wir ihn nach den Gründen für den Erfolg der Schulen in seinem Land in den letzten zwei Jahrzehnten fragen. «Die Gemeinsamkeit ist der Aufbau», erklärt der Experte, während er in seiner Wohnung in Sydney begeistert sein Rennrad vor die Webcam seines Computers hält. «Beide wurde entwickelt, um ohne irgendwelche Kunstgriffe ihren Zweck zu erfüllen. Sowohl für das Velo als auch für das Bildungssystem gilt: Jedes Bauteil ist von entscheidender Bedeutung. Entfernt man eines davon, funktioniert das gesamte System nicht mehr.»

Der Schlüssel: die Lehrpersonen

Der ausgebildete Lehrer, Bestsellerautor und anerkannte Experte für Bildungspolitik ist überzeugt: Einzeln betrachtet sind die finnischen Schulen nicht die besten der Welt. Was sie stark macht, ist das System in seiner Gesamtheit; ein System, in dem es so gut wie keine Privatschulen gibt, in dem Kinder mit sieben Jahren eingeschult werden, mittags umsonst in der Kantine essen, wenig Hausaufgaben und weniger Unterrichtsstunden haben als die meisten Schulkinder in anderen europäischen Ländern. Ein System, das auf Wettbewerb verzichtet und dessen Ziele vom Staat festgelegt werden. Zugleich steht es den Gemeinden, Schulen und Lehrpersonen frei, zu entscheiden, wie diese Ziele erreicht werden. Und für Pasi Sahlberg gibt es keinen Zweifel: Die wirklichen Heldinnen und Helden, die Grundpfeiler dieses Systems sind die Lehrpersonen.

«Motiviert und gut ausgebildet vollbringen sie wahre Wunder …», erklärt uns der Professor der University of New South Wales mit einem Lächeln, bevor er sich abmeldet, um ein Fondue und die letzten Sonnenstrahlen dieses Frühlingstages in Australien zu geniessen.

Drei Flugstunden und eine Zugreise von zweiundfünfzig Minuten später stehen wir im finnischen Nieselregen vor dem Eingang der Schule von Tapainlinna. Hier gehen jeden Tag 600 Schülerinnen und Schüler der Primar- und Orientierungsstufe ein und aus. Das eindrucksvolle Gebäude befindet sich in einem relativ wohlhabenden Quartier von Hyvinkää, einer Stadt mit 45 000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Grossraum Helsinki, die für ihr Eisenbahnmuseum bekannt ist und wo wir Ihnen bereits die finnischen Krippen vorgestellt haben.

Gesunder Menschenverstand statt Noten

Die Schülerinnen und Schüler sind noch schlaftrunken, als sie an diesem Donnerstagmorgen im Oktober um 9 Uhr das Klassenzimmer von Leena Kielenniva betreten. Die 17 kleinen blonden Köpfe (von 19) reiben sich die Augen und schlittern in ihren Socken unbeholfen zwischen den Tischen hindurch zu ihren Plätzen. Lange werden sie dort nicht ausharren. Nach der üblichen Begrüssung bildet die engagierte Lehrerin mit dem hervorstehenden Bauch – sie erwartet ihr zweites Kind – Zweiergruppen. In einer Gruppenarbeit sollen die 10-Jährigen eine Geschichte verfassen, deren Handlungsort und Protagonisten zuvor per Würfel bestimmt werden.

«Ich stelle die Gruppen immer nach dem Zufallsprinzip zusammen. So lernen die Kinder, zusammenzuarbeiten – selbst, wenn sie sich überhaupt nicht verstehen», erklärt Leena Kielenniva mit einem Lächeln. Auf der Rückseite des Blattes, das die 33-jährige Lehrerin aushändigt, ist Platz für eine Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler. Hier können sie angeben, wie gut sie die Übung ihrer Meinung nach gemeistert haben. Diese kurze Bewertung mag auf den ersten Blick belanglos erscheinen. Sie ist jedoch sehr wichtig, denn in der dritten Klasse erhalten die finnischen Schulkinder noch keine Noten. In Finnland entscheiden die Lehrpersonen selbst, wie sie die Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler bewerten. Dieses Vorgehen basiert auf dem Prinzip, auf individuellen Fähigkeiten aufzubauen statt auf einheitlichen Standards.

Dabei werden natürlich auch traditionelle Übungsblätter mit einem Punktesystem und die (wenigen) Hausaufgaben berücksichtigt. Zugleich spielen jedoch auch das Verhalten und die soziale Interaktion eine wichtige Rolle. Zweimal im Jahr schreibt die Lehrerin einen kurzen Bericht und führt anschliessend ein Gespräch mit den Eltern. Prinzipiell existiert die Möglichkeit, ein Schuljahr zu wiederholen – in der Praxis komme dies jedoch nicht vor, erklärt uns die Lehrerin. Bei Problemen wird den betroffenen Schülerinnen und Schülern ein Betreuer oder eine Betreuerin in ihrer Klasse zur Seite gestellt. Alternativ wird Unterricht in kleinen Gruppen mit einer spezialisierten Lehrperson für die betroffenen Fächer angeboten.

«Es stimmt nicht, dass finnische Schülerinnen und Schüler nicht beurteilt werden. Tatsächlich werden sie ständig beurteilt. Dafür sind wir ausgebildet», erklärt die Lehrerin mit den hellen Augen und dem kastanienbraunen Haar. «Wir beginnen in unserem Land jedoch erst mit der Benotung der Kinder, wenn sie den Sinn der Sache verstehen, d. h. ab der vierten Klasse (10–11 Jahre). Und selbst dann haben wir keine grossen, landesweit einheitlichen Tests, um das Gesamtniveau der Schulen zu bewerten, ausser ganz am Ende der Sekundarstufe. Sowohl der Staat als auch die Eltern vertrauen uns.»

Ein grundlegendes Vertrauen

Vertrauen. Dieses eine Wort bildet den Grundstein des finnischen Bildungssystems. Und das Vertrauen, das die Lehrpersonen geniessen, ist von wesentlicher Bedeutung. Würden sonst selbst die wohlhabendsten Eltern ihre Kinder auf die örtliche Schule schicken, ohne mit der Wimper zu zucken? Würde der Staat ansonsten vollständig auf einheitliche Tests verzichten, um die Schulen zu bewerten und einzustufen? Wahrscheinlich nicht.

Hinter diesem Grundsatz stehen auch die berufliche Selbstständigkeit und die Verantwortung, die den Lehrpersonen zugestanden werden. Dazu gehören die Beurteilung der Schülerinnen und Schüler, die freie Wahl der Unterrichtsmethoden sowie die Planung des Lehrplans. Letzterer wird in Absprache zwischen den Lehrpersonen, der Schulleitung und der Gemeinde beschlossen.

Der Lehrberuf geniesst in diesem Land seit jeher viel Respekt. Er ist darüber hinaus äusserst beliebt, wie Pasi Sahlberg in seinem 2021 veröffentlichten Buch Finnish Lessons 3.0 erklärt, obwohl das Gehalt nicht besonders hoch ist – es liegt ein wenig über dem nationalen Durchschnitt. Bei Umfragen gehört der Lehrerberuf häufig zu den angesehensten Berufen des Landes, teilweise sogar noch vor den Ärztinnen und Anwälten. In einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2008 gab überraschend die Mehrheit der finnischen Männer an, dass sie – wenn nur der Beruf zählen würde – eine Lehrerin als Partnerin wählen würden. Von den finnischen Frauen werden Ärzte und Tierärzte bevorzugt, aber Lehrer liegen auf dem guten dritten Platz.

Der Hauptgrund für das grosse Vertrauen, das der Staat – und die Eltern – den pädagogischen Fachkräften entgegenbringen, liegt in der extrem guten Ausbildung, die diese in Finnland erhalten. Ende der 1970er-Jahre wurden die Lehrgänge in die Universitäten integriert. Die Mindestanforderung für den Unterricht an Primarschulen ist inzwischen ein Masterabschluss. Das heisst mindestens fünf Jahre Studium, häufig sogar sechs.

Der Abschluss wird an acht Universitäten des Landes verliehen. Er steht am Ende eines anspruchsvollen Curriculums, in dem die Forschung an erster Stelle steht. «Jedes Jahr wird nur einer von fünf bis zehn Bewerbern zum Masterstudiengang für die Primarschullehrerausbildung zugelassen», erklärt Pasi Sahlberg in seinem Buch. An der Universität Helsinki wurden 2015 von mehr als 10 000 Bewerberinnen und Bewerbern lediglich 1741 Studierende in die Studiengänge für Primarschul- und Vorschulpädagogik aufgenommen. Im Jahr 2019 gab es 2035 Zulassungen bei 7218 Bewerbungen. Die Aufnahmekriterien beruhen nicht nur auf den schulischen Leistungen, sondern auch auf der Persönlichkeit, der Motivation und der Erfahrung der Bewerberinnen und Bewerber. Das Ziel ist, möglichst nur solche Studierenden auszuwählen, die den Beruf nicht frühzeitig verlassen werden. Wer sich in Finnland für den Lehrberuf entscheidet, übt ihn meist ein Leben lang aus.

Lehrpersonen wie Ärztinnen und Ärzte ausbilden

Nach der Aufnahmeprüfung schlägt das Studium eine Brücke zwischen Forschung, Theorie und Praxis. Die zukünftigen Lehrpersonen sollen dabei die Gewohnheit entwickeln, sich stets über die neuesten Forschungsergebnisse in ihren jeweiligen Fächern zu informieren.

In der Schweiz kann man sich in Friseurschulen von Lernenden kostengünstig die Haare färben lassen – dieses Konzept gibt es in Finnland ebenfalls für angehende Lehrpersonen. Alle erziehungswissenschaftlichen Fakultäten verfügen über eine eigene Übungsschule. In Helsinki gibt es sogar zwei.

«Diese Strukturen sind mit Universitätskliniken vergleichbar», erklärt Tapio Lahtero, Leiter der beiden «teacher training schools» in der Hauptstadt. «Die zukünftigen Lehrpersonen erlernen ihren Beruf vor Ort in einer Struktur, die zugleich eine echte Schule für Kinder, ein Ort der Aus- und Weiterbildung für Studierende und praktizierende Lehrpersonen sowie ein einzigartiger Ort der Forschung und des Experimentierens ist.»

So gut wie alle angehenden Lehrpersonen absolvieren einen Teil ihres Praktikums oder ihres Forschungsprojekts in einer der elf Übungsschulen des Landes. Diese Einrichtungen sind zudem ein ideales Feld für die Datenerhebung und bringen internationale Partnerschaften zwischen pädagogischen Forschungsinstituten hervor.

Weniger Unterrichtsstunden: ein Vorteil – auch für die Lehrpersonen

Leena Kielenniva musste sich dreimal bewerben, bis sie zum Lehramtsstudium zugelassen wurde. Sie hat nie aufgegeben. «Auf Leena trifft der finnische Begriff Sisu zu», meint Aki Korpela lachend, während er in der Tür seines Klassenzimmers steht. «Sie hat Durchhaltevermögen.»

Aki Korpela ist der Französischlehrer der Schule. Wenn er in einem seiner vielen zeitlosen karierten Hemden – heute das grüne – durch die Gänge geht, stürmen die kleinen Schülerinnen und Schüler auf ihn zu und sagen kichernd ein paar Worte in unbeholfenem Französisch. Bisweilen hört man beim Vorbeigehen ein «Comment vous allez?» oder ein «hippopotame».

Der freundliche 51-jährige Lehrer und seine Kollegin Laura Tsutsunen sind zweifellos eine hervorragende Verkörperung des von Fachleuten beschriebenen Enthusiasmus finnischer Lehrerinnen und Lehrer. Das erkennt man bereits nach einer Schulstunde. Zum Beispiel bei der Englischlehrerin in der Latzhose.

«Good afternoon», sagt sie. «Good afternoon, Mrs Tsutsunen», antworten zwanzig Zehnjährige im Chor. Auf einem Teppich in den Farben Grossbritanniens neben einem riesigen Big Ben aus Pappe und allerlei Schnickschnack aus dem Vereinigten Königreich präsentiert die lustige rothaarige Lehrerin ihrem faszinierten Publikum 45 Minuten lang Lieder und eindrucksvolle Gesten. Wie Musizierende unter Anweisung einer Dirigentin stehen die Schülerinnen und Schüler dabei auf, wiederholen das Gesagte und setzen sich wieder hin.

Auch wenn sich die Schulstunde um 13 Uhr dem Ende zuneigt, hat dies wieder die Form eines Spiels. Laura Tsutsunen zählt von 10 abwärts. Als sie bei Null ankommt, steht die ganze Klasse aufrecht mit gepackten Sachen und ist bereit zu gehen. Der Schultag ist vorbei. «Mit diesem Stundenplan werden sie sehr schnell selbstständig», freut sich die 55-jährige Lehrerin. Zu den beliebtesten ausserschulischen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler gehören finnisches Baseball (pesäpallo), Fussball, Hockey, Ausflüge mit Freunden und Schach – die besonders Motivierten haben sogar einen eigenen Verein in Tapainlinna gegründet.

Und wie kommt es, dass die jungen Finninnen und Finnen bei weniger Unterrichtsstunden genauso viel Stoff aufnehmen wie andere Kinder in Europa? Laura Tsutsunen, Aki Korpela und Leena Kielenniva haben da eine Idee. Sie haben kein Problem damit, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit ihren eigenen zu vergleichen.

«In Finnland gilt: Weniger ist mehr», erklären sie einstimmig. «Um 13 Uhr merkt man, dass die Kinder nicht mehr konzentriert sind. Wie sollten sie da zusätzliches Wissen aufnehmen, wenn sie den ganzen Tag Unterricht hätten? Und das Gleiche gilt für die Lehrpersonen. Mit diesem Stundenplan sind wir weniger müde und daher noch motivierter! Es ist ein positiver Kreislauf.»

Alle Macht den Lehrpersonen?

Eine Lehrperson kann noch so gut sein – ganz allein kann sie nichts erreichen. Und natürlich werden die Herausforderungen immer grösser, auch in Finnland. Während Mobiltelefone in den Alltag der Schulkinder eingezogen sind, hat deren Lesekompetenz drastisch nachgelassen. Budgetkürzungen sind an der Tagesordnung und die Zahl der Mitarbeitenden steigt zugleich stetig an. «Die Herausforderung besteht darin, genügend Ressourcen bereitzustellen, um Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten so früh wie möglich ausmachen und unterstützen zu können», erklärt Monna Poikolainen, die Direktorin der Schule.

Selbst der privilegierte Status der finnischen Lehrpersonen scheint ins Wanken zu geraten. Die Anzahl der Bewerbenden für das Lehramt ist seit 2013 zurückgegangen, ohne dass jemand die genauen Gründe dafür kennt. Zudem stellt Aki Korpela nach 25 Jahren im Beruf fest, dass das Vertrauen der Eltern in die Lehrpersonen abnimmt. «Vor Kurzem hatten wir wegen konfiszierter Telefone zum allerersten Mal mit Anwälten von Eltern zu tun!»

Trotzdem sind unsere Gesprächspartnerinnen und -partner davon überzeugt, dass sich die Qualität des finnischen Bildungswesens in den letzten Jahren nicht verschlechtert, sondern sogar noch verbessert hat. Nichts und niemand verkörpert dieses «finnische Wunder» besser als die Lehrpersonen selbst.

«Wenn die Bildungspolitik Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler daran hindert, das ihrer Meinung nach Nötige zu tun, um gute Ergebnisse zu erzielen, können selbst die besten Lehrerinnen und Lehrer keine wesentlichen Verbesserungen umsetzen. Der Wettbewerb zwischen den Schulen um die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern, vereinheitlichte Lehr- und Lernkonzepte sowie eine prüfungsbasierte Überwachung sind häufig anzutreffende und schädliche Aspekte aktueller Schulsysteme auf der ganzen Welt», schreibt Pasi Sahlberg. Und er gibt diesen Ratschlag: Wenn man gut ausgebildeten Lehrpersonen die Verantwortung über die Gestaltung des Lehrplans, der Lehrmethoden und die Beurteilung der Schülerinnen und Schüler überlässt, erhöht dies die Motivation im Klassenzimmer. Und in erster Linie profitieren davon die Kinder.

Der Beweis? Wenn man heute die Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule von Aki Korpela fragt, was sie als Erstes in ihrer Schule verbessern würden, dann sprechen sie nicht über Hausaufgaben, Druck, Prüfungen oder ihre Lehrpersonen. Lediglich das – kostenlose – Essen in der Kantine könnte etwas besser sein.

Die Reportage wurde mit der Unterstützung von Movetia ermöglicht, der Agentur zur Förderung von Austausch, Kooperation und Mobilität im Bildungssystem.