Die Schule Quest to Learn in Manhattan stellt das Spielen ins Zentrum ihrer Unterrichtsmethode. Ein stimulierendes und kreatives Umfeld für die Schülerinnen und Schüler, die auch lernen, Niederlagen zu überwinden.


Quelle: Heidi.news, Réinventer l’école par Valérie de Graffenried
Bild: Q2L pour Heidi.news

«Haben Sie einen Hund zur emotionalen Unterstützung?» Diese Art von Fragen erwartete man während des Zoom-Meetings für Eltern möglicher zukünftiger Schülerinnen und Schüler der Quest to Learn (Q2L) wohl eher nicht. Doch ein Vater stellte sie tatsächlich. Rachelle Vallon, pädagogische Beraterin, beantwortete sie anstandslos. Etwa so: «Bisher noch nicht, aber wir haben einen Antrag gestellt.» Aber der Schwerpunkt liegt woanders. Denn diese öffentliche Schule in Manhattan, mitten im Stadtteil Chelsea, nicht weit von der High Line, ist einzigartig: Spielen ist ihr Unterrichtsmodell. Und es ist genau diese Besonderheit, die an diesem Novemberabend gut 30 neugierige Eltern zu einem – wegen Covid zwangsmässig – virtuellen Besuch angelockt hat.

«Es erneut versuchen und Erfolg haben»

An der Q2L dreht sich also alles ums Spielen. Die Schülerinnen und Schüler (10 bis 16 Jahre alt) lernen spielend (oder spielen lernend), entwickeln Videospiele im Unterricht und testen ihre Ideen und Grenzen. Das Ziel: sich Wissen und Fähigkeiten auf eine spielerische, kreative und stimulierende Art aneignen. Vor allem auch Erfahrungen sammeln und eine systemische Denkweise entwickeln, die ihnen später nützlich sein können.

Durch die Spiele werden das gemeinsame Nachdenken, das Durchhaltevermögen, das Lösen von Problemen, das Vorhersehen von Schwierigkeiten oder auch das Bewältigen von Herausforderungen gefördert. Wer hat noch nie in einem Video- oder einem klassischen Spiel die Frustration erlebt, immer an derselben Stelle zu scheitern, mit diesem beinahe zwanghaften Drang, weiterkommen zu wollen – und dann das Gefühl des Sieges, wenn man es endlich geschafft hat? «Im Gegensatz zu traditionellen Bildungssystemen sind Niederlagen ein notwendiger Bestandteil des Spiels. Sie schaffen eine Situation, die die Schülerinnen und Schüler motiviert, es erneut zu versuchen und Erfolg zu haben», insistiert Rachelle Vallon.

Die Eltern hören vor ihren Bildschirmen gewissenhaft zu, einige gemeinsam mit ihren Kindern. Ein kleiner blonder Junge schneidet währenddessen Grimassen und knabbert gierig Erdnüsse. Die Vorstellung geht weiter. Begonnen hatte das Zoom-Meeting übrigens mit einer Achtsamkeitsmeditation. Die Aufgabe von Rachelle Vallon ist es, darzulegen, was die Q2L von anderen Schulen unterscheidet. Sie analysiert die Vorteile von Spielen, die Bedeutung, die dem Narrativ zukommt, und spricht von der «Revolution des Lernens». Sie zeigt kurze Videos, die im Unterricht gedreht wurden und wo nichts dem Zufall überlassen wurde. Bis hin zur Wortwahl des verwendeten Lieds: «Express yourself! What ever you do, do it good.» (Drück dich aus! Egal was du machst, mach es gut.)

Verschiedene Rollen spielen

Zum Spielen brauchen die Kinder meistens keine genauen Instruktionen. Das Intuitive überwiegt. An der Q2L lernen sie etwas, indem sie es machen. Auf diese Lernmethode konzentrieren sich die Lehrkräfte der Schule. Die Spiele ermöglichen zudem einen individuelleren Unterricht, der sich den möglichen Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler anpasst und ihnen ermöglicht, in ihrem eigenen Tempo voranzukommen.

«In den Spielen sind die Kinder oft angehalten, eine Rolle zu spielen. Bei ‹Monopoly› zum Beispiel ist es die Rolle des Immobilienhändlers. So eignen sie sich sehr unterschiedliche Fähigkeiten an, die ihnen in ihrem Alltag nützlich sein werden», fährt Rachelle Vallon fort. Bei der Q2L stehen Videospiele im Vordergrund. Aber auch Brettspiele, Kartenspiele oder Rollenspiele haben ihren Platz.

Selbst der Lehrplan ist wie ein Spiel aufgebaut. Jeder Kurs hat seine bestimmten Missionen und Strategien. Hier wird nicht «Geografie» oder «Englisch» unterrichtet. Aber zum Beispiel «Point of View» (Standpunkt), wo Englisch und Multimedia verbunden werden. Oder «The Way Things Work» (Wie die Dinge funktionieren) für Mathematik und Wissenschaften. Am Ende jeder Session gibt es das «Boss Level», das den Abschlussprüfungen entspricht und seinen Namen dem Videospieluniversum verdankt.

An diesem Abend ist auch Joshua Kahan, der «The Way Things Work» in Kleingruppen unterrichtet, via Zoom anwesend, um die Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder der Q2L anzuvertrauen. Er präsentiert ein ganz simples Beispiel eines Spiels. «Ich habe den Schülerinnen und Schülern kürzlich ein Video gezeigt, in dem ein Mann versucht hat, den Rekord des häufigsten Klatschens pro Minute zu brechen [Anm. d. Red.: der aktuelle Rekord liegt bei 1103, aufgestellt von einem Amerikaner im Jahr 2018]. Aber ich habe ihnen nur einen Ausschnitt gezeigt. Sie mussten gemeinsam überlegen, wie sie herausfinden können, ob der Mann die Wette gewonnen hat oder nicht.»

Eine fiktive Stadt verwalten

Je älter die Kinder werden, desto komplexer werden die Aufgaben. Eine Klasse macht zum Beispiel Erfahrungen mit Creepytown, einer imaginären Stadt, mit der die Schülerinnen und Schüler mehr zum Thema Reisen lernen, indem sie sich in verschiedenen Materien weiterbilden. Sie haben gelernt, Budgets zu erstellen, Währungen zu wechseln … und sich nach einigen Wochen mit der Insolvenz der Stadt zu beschäftigen, zu der es wegen einer schlechten finanziellen Verwaltung kam. Sie mussten die Gründe für ihr Scheitern analysieren. Aber vor allem mussten sie eine Lösung finden, um Creepytown wieder auf die Beine zu bekommen und neue Einnahmequellen zu entwickeln. Andere haben für ein fiktives Biotechnologie-Unternehmen Dinosaurier geklont, mit dem Auftrag, ein für diese lebensfähiges Ökosystem zu finden. So werden Genetik, Biologie und Ökologie verknüpft.

Natürlich ist nicht jedes Kind für diese Art von Schule gemacht. Und umgekehrt können Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten in der normalen Schule in der Q2L dank eines stimulierenden Umfelds aufleben. Das ist es, was Katie Salen Tekinbas, eine der Mitbegründerinnen der Q2L, betont: «Wir haben ein Bedürfnis festgestellt und darauf reagiert … die Jungen interessierten sich nicht mehr für die Schule.» Ein Zitat, das auf der Website der Institution hervorgehoben wird.

Nachdem sie untersucht hat, wie Spiele funktionieren und auf welche Art und Weise sie das Lernen begünstigen, folgte Katie Salen Tekinbas dem Gedanken, ob eine Schule auf dieselbe Weise konzipiert werden kann. So entstand die Q2L, dank Unterstützung des Institute of Play [Anm. d. Red.: das es seit 2019 nicht mehr gibt] und der Parsons School for Design sowie in Zusammenarbeit mit dem Bildungsdepartement der Stadt New York. Im ersten Schuljahr 2009/10 gab es nur eine Jahrgangsstufe mit 76 Schülerinnen und Schülern. Bis 2015 kam jedes Jahr eine weitere dazu. Finanzielle Unterstützung – zu Beginn eine Million Dollar – erhielt sie unter anderem von der MacArthur Foundation, von Intel und auch von der Bill & Melinda Gates Foundation.

Katie Salen Tekinbas war die erste Leiterin der Q2L, ist jetzt jedoch nicht mehr daran beteiligt. Die Professorin am Informatikdepartement der University of California in Irvine und Mitbegründerin von Connected Camps, einer Online-Lernplattform, die von jungen Minecraft-Expertinnen und -Experten betrieben wird, ist eine Videospiel-Enthusiastin und -Designerin, die sich vor allem für die Ästhetik der Interaktion sowie das transformatorische Potenzial interessiert. Eine bekannte Grösse im Bereich der «Game Studies», die zahlreiche Fachwerke veröffentlicht hat. Weiter veröffentlichte sie 2011 eine Studie zum Modell der Q2L. Ihr Mentor ist James Paul Gee, unter anderem Autor von «What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy» (2003).

Notwendige Einschränkungen

Seit James Paul Gee heben auch andere Forscherinnen und Forscher die Vorteile des spielenden Lernens hervor. Aus einer Studie der University of Columbia von 2016 ging zum Beispiel hervor, dass junge Kinder, die Videospiele spielten, nicht nur bessere Ergebnisse in der Schule erzielten, sondern auch bessere kognitive Leistungen erbrachten, als andere. Sie zeigten auch weniger Verhaltens- und Beziehungsprobleme. Das dürfte die Eltern beruhigen, die sich Sorgen machen, wenn ihre Kinder Stunden vor einem Bildschirm oder mit einer Spielkonsole verbringen.

Die Studie wurde in der Zeitschrift «Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology» veröffentlicht und basiert auf einer Stichprobe von 3195 europäischen Kindern im Alter von 6 bis 11 Jahren. Etwa 20 Prozent davon spielten mehr als fünf Stunden pro Woche. Die Forscherinnen und Forscher warnen jedoch vor einer Überinterpretation der Ergebnisse: Der Erfolg der Schülerinnen und Schüler hänge auch von der Fähigkeit der Eltern ab, den Zugang zu den Spielen einzuschränken, indem sie zum Beispiel die Bildschirmzeit begrenzen. Ein Bericht von 2015 der Federation of Associations in Behavioral & Brain Sciences bringt die Videospiele auch in Verbindung mit der Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, des argumentativen Denkens und der kognitiven Funktionen. Und in ihrem Artikel auf Wired über die Macht von Minecraft, der 2014 publiziert wurde, legt Hannah Gerber, eine Forscherin im Gebiet der Alphabetisierung, dar, dass einige Schülerinnen und Schüler es im Englischunterricht kaum schafften, zehn Minuten lang zu lesen, während sie dies zu Hause beim Lernen von Videospielen bis zu 70 Minuten lang taten.

«The Oregon Trail» als Beispiel

«Es gibt umfassende Literatur zu den Vorteilen von Spielen in der Pädagogik», so Yannick Rochat, Mitbegründer des GameLab UNIL-EPFL, aus Lausanne. «In den Jahren 1970 bis 1980 wurden Computer vor allem für Videospiele genutzt. Diese dienten also als Einstieg in die Welt der Informatik. Von Anfang an fand man sie in den meisten Schulen der Industrieländer, oftmals noch bevor sie in die Privathaushalte kamen.»

Yannick Rochat kennt die Q2L nicht, bestätigt aber, dass Katie Salen eine renommierte Forscherin im Bereich «Game Studies» ist. Der «Sandkasten»-Aspekt ist gemäss Rochat ein interessantes Element bei Videospielen. Diese lassen oft zu, dass gewisse Dinge getestet und die Auswirkungen gewisser Entscheidungen gemessen werden können. Aber er betont, dass eine gute Begleitung für einen korrekten Lernprozess unabdingbar ist. Yannick Rochat leitet derzeit ein Projekt – zum Teil vom Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanziert –, das Kurse für Schülerinnen und Schüler von Gymnasien und Berufsschulen (15 bis 20 Jahre alt) des Kantons Waadt anbietet, in denen Videospiele als Lehrmittel genutzt werden.

Er erinnert an «The Oregon Trail», Pionier der pädagogischen Videospiele, das dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert. Das Spiel wurde Ende 1971 von drei jungen Lehrern aus Minnesota entwickelt, um den Geschichtsunterricht aufzupeppen und die Geschichte der Migration der Siedler zwischen Missouri und Oregon Mitte des 19. Jahrhunderts zu erzählen. Es verzeichnete einen grossen Erfolg in den Schulen der Vereinigten Staaten, vor allem um die 90er-Jahre herum. «Sie werden kaum eine Amerikanerin oder einen Amerikaner zwischen 30 und 50 Jahren finden, die oder der das Spiel nicht im Unterricht gespielt hat», wirft Yannick Rochat ein. Das Prinzip? Sicherstellen, dass die Pioniere auf ihrer über 3200 Kilometer langen Reise überleben, indem man sich um die Konvois kümmert, die alle Arten von Rückschlägen überstehen müssen: von der Ruhr über Klapperschlangenbisse bis hin zu Epidemien. Das Spiel wurde mehrfach neu aufgelegt und verbessert.

Das Konzept der Q2L, wo Lehrkräfte und Spieleentwicklerinnen und -entwickler Hand in Hand arbeiten, kommt also nicht von ungefähr. Es wird bis an seine Grenzen ausgekostet, denn es dreht sich alles ums Spiel. Die New Yorker Schule darf sich damit rühmen, speziell zu sein (auch wenn sie in Chicago eine kleine Schwester hat). Sie bleibt ziemlich diskret und ist offenbar wenig daran interessiert, ihre Medienpräsenz auszubauen. Dazu muss gesagt werden, dass sie einige Turbulenzen durchgemacht hat, vor allem mit Änderungen innerhalb der Schulleitung. Aber die Q2L erhalte weiterhin jedes Jahr zwischen 250 und 300 neue Aufnahmeanträge für die etwa 100 verfügbaren Plätze, versichert Rachelle Vallon. Derzeit zählt die Schule rund 500 Schülerinnen und Schüler. Und vielleicht bald einen Hund zur emotionalen Unterstützung.