Ronny Gröner ist Deutschlehrer im Kanton Freiburg und an seiner Schule für den Sprachaustausch zuständig. Er ist sowohl von der Interkulturalität als auch vom Austausch überzeugt und teilt seine Meinung in diesem Text, der auch in der März-Ausgabe des L'Educateur publiziert wurde.


«Die anderen» faszinieren uns, beschäftigen uns und machen uns auch Angst. Sie sind unentbehrlich und tragen wesentlich zur Identitätsbildung eines Individuums bei und zwar schon seit der Kindheit. Sie erlauben uns, uns zu vergleichen, zu hinterfragen und sogar zu überraschen. Das Interagieren mit anderen trägt dazu bei, dass wir aus uns herauskommen. Es ermöglicht uns, über uns selbst hinauszuwachsen. Erinnern wir uns an Aristoteles, der sagte, dass der Mensch notwendigerweise ein soziales Wesen ist.

Sprachaustausche tragen nicht nur zur Verbesserung der Sprachkenntnisse bei, sondern ermöglichen ein einzigartiges und essenzielles soziokulturelles Abenteuer. Wie soll sich nicht eine gewisse Flexibilität entwickeln, wenn wir uns mit völlig Unbekannten austauschen? Ein Austauschpartner ist ein Alter Ego, das unsere Muttersprache nicht beherrscht. Die Kunst der Kommunikation ist eine gefürchtete und schwierige Stilübung. Wer sich die Mühe macht und die Distanz zum anderen überwindet, nähert sich an, lernt sich besser kennen und lernt besser mit anderen zusammenzuleben. Ein Austausch ist ein echtes menschliches Abenteuer, das unweigerlich die Entwicklung vielfältiger Fähigkeiten sowohl fachlicher als auch zwischenmenschlicher Natur fördert. Ein Austausch bringt eine Fülle mannigfaltiger Kompetenzen, die im Unterricht gelebt werden sollen, damit die Sprachaustausche mittels ihrer fächerübergreifenden Kapazitäten ihre moderne Bildungsmission perfekt erfüllen.

Ein physisches Treffen der Teilnehmenden stellt den idealen Höhepunkt eines Sprachaustauschs dar. Natürlich ist unsere heutige Welt ins digitale Zeitalter vorgestossen. Trotzdem freuen sich die jungen Menschen immer noch über Begegnungen im «echten» Leben. Und das auch jetzt, obwohl wir uns seit über zwei Jahren in einem völlig neuen Kapitel der Menschheitsgeschichte befinden, das sich durch die Einschränkung der sozialen Austausche auf globaler Ebene auszeichnet.

Bei einem Austausch lernen Kinder und Jugendliche, Rücksicht auf andere zu nehmen.  Sie lernen, andere Meinungen und Ideen zu akzeptieren und berücksichtigen dabei Herkunft und Traditionen. Kurz: Sie achten auf Diversität. Dadurch wird an menschliche Werte wie Respekt, Teilen und gegenseitige Hilfe appelliert, aber vor allem werden sehr konkrete Kompetenzen entwickelt. Dazu gehören Organisationsfähigkeit, Kreativität, Selbstständigkeit und das regelmässige Arbeiten während des gesamten Schuljahres.

Wie sollen Kinder und Jugendliche nicht daran wachsen, gemeinsam mit der Lehrperson und seinen Mitschülerinnen und Mitschülern eine Mobilität sowohl auf organisatorischer als auch auf finanzieller Ebene zu planen? Wie sollen sie nicht Freude und Dankbarkeit empfinden beim Schreiben einer persönlichen Grusskarte an den Austauschpartner? Nicht zu vergessen ist die Geduldsprobe, wenn sie auf den Brief warten, der per Post kommen soll. Die Eile, die sie empfinden, wenn sie erfahren möchten, was auf dem Stück Papier steht, das sie in den Händen halten, um es wieder und wieder zu lesen.

Denken wir an die Werke von Robert Castel oder auch an Zygmunt Bauman und seine «flüchtige Moderne». In unserer hypermodernen Welt, stellt das Lernen, eine echte menschliche Beziehung zu pflegen und Verantwortung dafür zu übernehmen, die Grundlage der Identitätsbildung dar. In diesem Sinn sind Sprachaustausche förderliche Erfahrungen, die es verdient haben, in vollen Zügen gelebt zu werden!