An zwei Schulen in der Umgebung von Kopenhagen wurden traditionelle Schulzimmer durch grosse Gemeinschaftsräume ersetzt. Was, wenn die Schulgebäude neu gedacht werden müssen, um die Schule neu zu erfinden?


Quelle: Heidi.newsRéinventer l’école von Sophie Gaitzsch
Bilder: Rasmus Degnbol für Heidi.news

Am Ørestad Gymnasium befindet sich die Mensa direkt in der Eingangshalle. Trennwände gibt es keine. Von dort aus führen mit Tischen und Stühlen bestückte Plattformen zu einer komplett verglasten Turnhalle. Der Pausenplatz ist auf dem Dach. Das Hauptmerkmal des Gebäudes ist eine gewaltige Wendeltreppe, die eher in eine futuristische Oper passen würde als in ein öffentliches Vorstadt-Gymnasium.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte ein Poltergeist das würfelförmige Gebäude gepackt und durchgeschüttelt, bevor er davon abliess und sich mit dieser seltsamen Anordnung begnügte. Aber die wahre Geschichte ist natürlich eine ganz andere. Das Ørestad Gymnasium hat seit seinem Bau 2007 und seiner aufwändigen Einweihung in Anwesenheit von Prinz Frederik mehrere Preise gewonnen und ist gut durchdacht. Das Ziel war es, auf eine dänische Schulreform zu reagieren, die die Innovation in den Vordergrund rückt.

Die 1’150 Schülerinnen und Schüler im Alter von 16 bis 19 Jahren verbringen hier die Hälfte ihrer Zeit in traditionellen Schulzimmern – mit dem Unterschied, dass diese verglast sind und alle sehen können, was drinnen vor sich geht. Die andere Hälfte verbringen sie in den Gemeinschaftsbereichen, auf gemütlichen, mit Teppich ausgelegten Plattformen, an Tischen auf den Treppen und in den Gängen oder in privateren Ecken mit farbigen Lampen.

Viel näher und weniger schüchtern

Mads Skrubbeltrang nimmt uns in zügigem Tempo mit auf eine Führung. Der forsche Rektor ist es gewohnt, seine Schule internationalen Gästen zu zeigen. Aber wegen der Pandemie kam die Berichterstattung zu einem abrupten Ende. Wir sind die ersten ausländischen Reporter, die er seit Anfang März 2020 empfängt. Dies hat sich übrigens vor ein paar Tagen dank einer zögerlichen Wiedereröffnung ergeben. Die verschärften Kontrollen am Flughafen haben uns jedoch kräftig ins Schwitzen gebracht.

Erfreut über diese unerwartete Rückkehr erklärt Mads Skrubbeltrang, dass die Lehrpersonen im Schulzimmer eher traditionell unterrichten, ausserhalb jedoch, in einer Umgebung, die nicht für Frontalunterricht geeignet ist, müssen sie ihre Vorgehensweise anpassen. «Sie zu inspirieren, sie herauszufordern, ihre Lehrmethoden zu hinterfragen und anders zu denken, ist eines der Ziele dieser Ausgestaltung. Dies hat zur Folge, dass im offenen Raum die Einzel- oder Kleingruppenarbeit bevorzugt wird. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln so eher eigene Ideen und werden zu mehr Kreativität und Unabhängigkeit ermutigt. Die Lehrpersonen nehmen dabei eine Beraterfunktion ein.»

Im zweiten Stock lässt die Französischlehrerin Anne Saehl ihre Schülerinnen und Schüler, die gerade mit einem Kreuzworträtsel zum Thema Jugendsprache und Slang beschäftigt sind, ein paar Minuten alleine. Sie hatten zuvor den Film «La Haine» gesehen, der ihnen sehr gut gefallen hat – «abgesehen vom Ende», fügt die Lehrerin schmunzelnd an. Anne Saehl schätzt diese entspanntere Atmosphäre. «Es ist viel einfacher, mit den Schülerinnen und Schülern zu sprechen, weil wir räumlich viel näher sind. Denjenigen, die schüchtern sind, fällt es leichter sich auszudrücken und Fragen zu stellen. Das verändert die Beziehung zwischen den Jugendlichen und der Lehrperson sehr.»

Möglich wird der Wechsel zwischen Schulzimmer und Open Space durch eine weitere Besonderheit: den verstärkten Einsatz der IT. Papier und Stifte sind hier fast völlig verschwunden. Alle Unterrichtsmaterialien sind online verfügbar. Wohin man auch schaut, sei es in den verglasten Schulzimmern oder im Open Space, alle arbeiten an Laptops. «Wir haben kein vorgeschriebenes System», fährt Mads Skrubbeltrang fort. «Die Lehrpersonen haben alle ihre eigenen Seiten, jeweils mit persönlicher Note. Dafür werden sie nicht ausgebildet, sie müssen sich aktiv dafür entscheiden. Sie werden bereits beim ersten Bewerbungsgespräch darüber informiert. Ich sage ihnen immer, dass es nicht schwierig, sondern einfach anders sei.»

Dem Gebäude gerecht werden

Mit seiner besonderen Architektur und den Anforderungen, die weit von der Norm der Bildungsinstitute des Landes abweichen, zieht das Ørestad Gymnasium natürlich Persönlichkeiten an, die offen für einen innovativen Ansatz sind. So zum Beispiel die lächelnde Englisch- und Dänischlehrerin Mette Dahl Olander. Ehe sie vor elf Jahren hier landete, arbeitete sie in der Werbebranche. «Klar spielte das Gebäude, das sich stark von meinem Gymnasium unterschied, eine Rolle. Es beeinflusst meine Arbeit, denn man kann nicht einfach die Tür schliessen und wie gewohnt unterrichten. Für meinen Unterricht im offenen Raum setze ich auf Kleingruppen. Das kann eine Projektarbeit, Werkstattunterricht, bei dem die Schülerinnen und Schüler abwechselnd eine Aktivität pro Tisch bearbeiten, oder aber das sogenannte ‹Walk and Talk› sein, bei dem die Schülerinnen und Schüler spazieren gehen, manchmal sogar auf der Strasse. Auch die Architektur der Schule regt mich an, weil ich dem, was sie darstellt, gewissermassen gerecht werden möchte.»

In der Vision seiner Designerinnen und Designer sollte das Ørestad Gymnasium nicht nur das Verhalten der Lehrpersonen, sondern auch jenes der Schülerinnen und Schüler beeinflussen. Um mit Hunderten Mitschülerinnen und Mitschülern denselben Raum teilen zu können, müssen sie sich ihrer Anwesenheit bewusst sein, dürfen nicht zu laut sprechen, um die Anderen nicht zu stören und müssen sich gleichzeitig auch selbst behaupten. Es fordert eine gegenseitige Rücksichtnahme, die darauf abzielt, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft zu stärken.

Eine «sehr besondere» Schule

«Ja, das war die Idee!», lacht Mads Skrubbeltrang. Er gibt aber zu: «Mit den Schülerinnen und Schüler der ersten Gymnasialklassen ist es kompliziert. Um ehrlich zu sein, der Lärm ist ein Problem. Zurzeit ist die Anzahl der Schülerinnen und Schüler wegen der Pandemie reduziert, daher ist es ruhig. Aber wenn alle da sind ... Jugendliche brüllen herum, so ist es nun mal. Das passt nicht allen. Einigen fällt es schwer, sich zu konzentrieren. Manche von ihnen wechseln letztendlich die Schule. Meist ist aber der Lärm nicht der Hauptgrund, sie finden die Schule einfach zu besonders.»

Die überwiegende Mehrheit kommt jedoch auf ihre Kosten. Einige Schülerinnen und Schüler pendeln sogar über eine Stunde, um ans Ørestad Gymnasium zu kommen. Sie werden von originellen Lehrprogrammen angezogen, deren Schwerpunkt Musik oder Medien ist, aber auch von der sozialen Mischung und der «Offenheit» des Gymnasiums. Dies gilt zum Beispiel für die 17-jährige Sussie. Wir sind ihr in der Eingangshalle zwischen zwei Unterrichtsstunden begegnet. Sie wohnt mehr als 25 Kilometer entfernt. «Ich brauchte einen Neuanfang», erzählt sie. «Vorher war ich an einer Schule, wo sich alle ähnlich waren, Kinder von Ärzten und Anwälten. Ich habe mich anders gefühlt, weil ich auf dem Land aufgewachsen bin. Wissen Sie, in Dänemark sind die Gymnasien sehr homogen. Wenn man heraussticht, ist es kompliziert. Hier ist es genau das Gegenteil.»

Gleich neben ihr stimmt die 17-jährige Alisa zu: «Das Gebäude ist grossartig. Man spürt die Offenheit und ich habe mich gleich wohlgefühlt. Nicht in Schulzimmern eingesperrt zu sein, hilft dabei, Kontakte zu knüpfen. Man lernt Schülerinnen und Schüler aus anderen Klassen und anderen Jahrgängen kennen. Es überrascht vielleicht, aber ich kann mich besser konzentrieren, wenn Personen an mir vorbeigehen und ich jeden ständig sehe.»

Kein einziges Schulzimmer mehr

Die Bekanntheit und Beliebtheit des Ørestad Gymnasiums stellt eine andere Schule in den Schatten, die bereits 2002 gebaut wurde und gänzlich vom Konzept der geschlossenen Schulzimmer abgesehen hat. An der Hellerup Skole, an die 600 Schülerinnen und Schüler vom Anfang der Primarstufe bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit gehen, ist es ganz einfach: Es gibt kein einziges Schulzimmer mehr!

Wie das Ørestad Gymnasium ist auch die Hellerup Skole eine öffentliche Schule. Doch während erstere zwischen Bahngleisen, einer Autobahnauffahrt und unpersönlichen Wohnblöcken eingeklemmt ist, grenzt letztere an Hochhäuser mit Luxuswohnungen und prachtvolle Residenzen von Botschafterinnen und Botschaftern, die in die dänische Hauptstadt entsandt wurden. All dies mit einem traumhaften Blick aufs Meer. «Hellerup ist eine der reichsten Gemeinden des Landes», wird uns erklärt. Ein anderes Viertel, eine andere Atmosphäre.

Allerdings hat man beim Betreten nicht das Gefühl, in einer Schule für Privilegierte zu sein. Klar, das Gebäude ist lichtdurchflutet und besticht durch eine sehr schöne helle Holztreppe (noch eine!) in seiner Mitte. Was aber vor allem auffällt, ist das fröhliche Durcheinander. «Es kann schnell unübersichtlich werden», gesteht Lasse Reichstein, der gelassene Rektor der Schule, während er ruhig an herrenlosen Schuhen, Fahrradhelmen und Stiften vorbeigeht, die auf dem Boden liegen.

Autos und Wikinger

In der Hellerup Skole wurde die offene Umgebung so ausgelegt, dass sich Kinder aus verschiedenen Klassen und Stufen vermischen können und die Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen verbessert wird. Die grosse Flexibilität der Räumlichkeiten soll zudem projektbasiertes Lernen fördern. Die Schülerinnen und Schüler erhalten regelmässig die Aufgabe, sich eine Woche oder zehn Tage lang einem Thema oder einer Aktivität zu widmen, wobei sie auf dem zuvor Gelernten aufbauen. In der Primarschule kann dies der Bau eines kleinen Autos sein, wozu gerechnet, gemessen, gebaut und dann dekoriert werden muss. Es kann auch der Entwurf ihres Traumhauses sein, aber in einer Gruppe, was sie zum Verhandeln zwingt. Ein anderes, stärker auf den Geschichtsunterricht bezogenes Beispiel ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler eine Woche lang mit den Wikingern, ihren Werkzeugen und ihren Reisen beschäftigen.

Lasse Reichstein gesteht, dass sich die Kinder, wie in allen Schulen, manchmal langweilen. «Aber diese Arbeitsweise weckt ihre Neugier und ermutigt sie, ihren eigenen Weg zu finden. Es gibt dem Gelernten einen Sinn. Und je älter sie werden, desto selbstständiger werden sie.»

Das echte Leben besteht nicht aus einzelnen Fächern

Für die Ältesten geht die Hellerup Skole noch einen Schritt weiter und zwar mit komplett von den Schülerinnen und Schülern organisierten Wochen. Die Anweisung umfasst oft nur ein einziges Wort, zum Beispiel «Freiheit». Danach organisieren sich alle nach eigenem Ermessen, wo immer sie möchten (in der Schule oder anderswo), um am Ende der vorgegebenen Zeit ein individuelles Projekt zu präsentieren. «Das Ziel war von Anfang an, die Bürgerinnen und Bürger der zukünftigen Gesellschaft zu formen. Das echte Leben besteht nicht aus einzelnen Fächern», erklärt Lasse Reichstein.

Wie sieht die Grundlage aus, die hinter dieser reibungslosen Dynamik steckt? In der Praxis werden die Schülerinnen und Schüler in «Lernbereiche» aufgeteilt, die bei den Jüngsten jeweils zwei oder drei Klassen unterschiedlicher Stufen und bei den Älteren der gleichen Stufe umfassen. Innerhalb dieser Bereiche hat jede Klasse eine «Basis», wo sie sich morgens für eine kurze Besprechung trifft, bevor sie sich verstreut und mit den anderen mischt.

Leider ist es uns nicht möglich, am Unterricht oder an einem Projekt teilzunehmen. Es ist bereits drei Uhr nachmittags und der Schultag endet in Dänemark früh. Nur vereinzelte Kinder sind noch für Aktivitäten hier, während sie darauf warten, dass ihre Eltern sie abholen. Im Bereich der Jüngsten, zu dem eine grosse Küche, Kisten mit Spielzeug und viele Bücher gehören, sind drei sehr junge, auf einem Tisch stehende Schülerinnen und Schüler gerade dabei, eine instabile Rutsche zu bauen, von der sie Stofftiere in ein ungewisses Schicksal entsenden.

Josefine, eine der Lehrpersonen, bereitet sich auf den nächsten Tag vor. Wie auch für die Lehrpersonen des Ørestad Gymnasiums, stellt das Gebäude für sie zweifellos eine Chance und niemals eine Einschränkung dar. Der Beweis? Sie hatte während ihres Studiums hier ein Praktikum absolviert und danach nur noch eines im Sinn: zurückzukehren. Was ihr an den offenen und flexiblen Räumlichkeiten am besten gefällt? Die Nähe zu ihren Schülerinnen und Schüler. «Sie können sich an mich anlehnen, ich bin für sie eine beruhigende Figur. Wir kennen uns sehr gut, wodurch ich sie besser begleiten kann. Ich kenne auch die Schülerinnen und Schüler der restlichen Klassen sehr gut. In einem anderen Rahmen würde ich von einem etwas unbändigen Kind nur wissen, dass es im Gang Lärm macht. Hier sehe ich auch, wie es sich im Unterricht verhält. Durch die Nähe zu meinen Mitarbeitenden kann ich meine Leistung ständig verbessern. Wir sind ein wahres Team.»

Glückliche Schülerinnen und Schüler?

Wie sieht es mit den Schülerinnen und Schülern aus, kommen sie hier auf ihre Kosten? «Die meisten, ja. Manche aber nicht, und es wäre dumm, etwas anderes zu behaupten», stellt Josefine klar. «Für mich ist die Flexibilität unbezahlbar. Wir haben dadurch mehr Möglichkeiten, Schülerinnen und Schülern zu helfen, die Schwierigkeiten haben. Allein die Tatsache, dass sie sich zurückziehen können, ohne das Schulzimmer physisch verlassen zu müssen, ist eine gute Sache.»

«Die dänische Kultur basiert auf Vertrauen und ‹entspannteren› sozialen Beziehungen als in vielen anderen Ländern», betont Lasse Reichstein. Alle duzen den Rektor und sprechen ihn mit dem Vornamen an. «Jede Person hat den gleichen Wert, es besteht ein sehr hoher Respekt gegenüber Kindern.» Seit einigen Jahren wird in Dänemark sogar das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler aller Schulen des Landes überwacht, indem diese jedes Jahr mittels eines Fragebogens direkt angesprochen werden. Die Hellerup Skole, die auch eine ausgezeichnete Abschlussquote hat, lag bei dieser Umfrage leicht über dem nationalen Durchschnitt. Lasse prahlt damit aber nicht. Er weiss nicht, wie er die Antworten seiner Schülerinnen und Schüler auf Standardfragen interpretieren soll, die für traditionell geführte Schulen gedacht sind. Zum Abschluss noch etwas Bescheidenheit: «Ich habe einfach das Gefühl, dass sie sich hier sicher fühlen.»

Die Reportage wurde mit der Unterstützung von Movetia ermöglicht, der Agentur zur Förderung von Austausch und Mobilität im Bildungssystem.